»Wer verzweifelt ist, ist es nachts doppelt und dreifach«

Domian, Angela Merkel und einer, der die deutsche Einstellung zu Geld erforscht


»Mit 15 verteilten Sie vor der Kirche selbstgedruckte Flugblätter, auf denen Sie mit flammender Emphase dazu aufriefen, zum wahren und lebendigen Glauben zu finden.
Mein Fanatismus ging so weit, dass ich ahne, was in religiös motivierten Attentätern vorgeht. Ich war besessen von der Richtigkeit meines Glaubens und wollte, dass alle Menschen die Welt so sehen wie ich. Es machte mich zornig, sonntags die braven Gummersbacher Bürger in schicken Klamotten und Pelzmänteln in die Kirche wackeln zu sehen. Ich verachtete diese Leute, weil ich ihnen unterstellte, dass sie nicht mit Leib und Seele Jesus Christus verbunden sind, sondern nur aus bürgerlicher Tradition in den Gottesdienst gehen. Deshalb jagte in meinem Flugblatt eine Beschimpfung die nächste. Ich kam mir groß und mutig vor, denn ich hatte Jesus vor Augen, wie er die Händler aus dem Tempel trieb. Das fand ich super. So wollte ich auch sein.

Wie lange hielt Ihr Fanatismus?
Bis ich 20 wurde. Ich wollte Theologie studieren, aber kurz vorher brach alles zusammen. Im Philosophieunterricht im Gymnasium hatte ich mitbekommen, dass die größten Kritiker des Christentums Ludwig Feuerbach und Friedrich Nietzsche sind. Ich dachte, du musst deine Gegner kennen, also lies die beiden. Ich war so selbstherrlich zu glauben, dieser Kampf auf höchstem Niveau würde meinen Glauben nur noch stärker machen. Aber je mehr ich mich in Das Wesen des Christentums und Der Antichrist vertiefte, desto mehr Risse bekam das Fundament meines Glaubens. […] Ich stand vor dem Nichts. Gott war weg, der Tod hatte wieder Macht über meine Gedanken und verdunkelte mein Leben. Es gab kein Gut und Böse mehr und keinen Trost, eine Katastrophe.

[…]

Nach Abitur und Zivildienst gerieten Sie mit Mitte 20 in die schwerste Krise Ihres Lebens. Sie hatten Ihren Glauben verloren, suchten Ihre sexuelle Identität und wurden zum Bulimiker.
[…] Ich hockte einsam in einer Wohnung ohne Telefon im sechsten Stock, hörte Schostakowitsch, las Camus, Kafka und Celan und fraß und kotzte. Wenn Sie vor dem Klo knien und den Finger bis zum Anschlag in den Hals stecken, um kotzen zu können, verlieren Sie jegliche Achtung vor sich selbst. Und wenn das dreimal, viermal am Tag vorkommt, liegen Sie in der Gosse. Bis auf eine Freundin wusste niemand etwas von meiner Kotzerei. Es war tabu, darüber zu sprechen, auch wegen der ethischen Fragen: Du verschwendest Unmengen von Lebensmitteln, während andere hungern – was für eine Schande!«*


1.*
Erschütternd, wie viele Probleme jemand hat, dessen Beruf es doch eigentlich war, anderer Probleme anzuhören. Domian kämpfte mit so ziemlich allem – und geriet dabei von einem Extrem ins Nächste. // »Ich ringe öfter mit den Tränen als früher«

2. »Ist die Leistung der Ostdeutschen auf dem Weg zum Mauerfall zu wenig gewürdigt worden? […] die friedliche Revolution und der 9. November 1989 waren das Werk der DDR-Bürger. Davon geben wir gerne was ab, auch die Freude, aber geschafft haben das die DDR-Bürger mit einer ganzen Menge Mut. Und da ich weiß, dass in Westdeutschland damals nicht nur Mutbolzen lebten – ich erinnere mich, wie es manchen schon zu viel wurde, wenn sie mal für uns ein Buch über die Grenze schmuggeln sollten – könnte man das sicher mehr würdigen.« Angela Merkel wird nach 14 Jahren Bundeskanzleramt fast nahbar und humorvoll. Besser spät als nie. // »In Westdeutschland lebten nicht nur Mutbolzen«

3. »[…] Umgekehrt ergäbe Ihre Frage, mit Verlaub, mehr Sinn: Warum sollten sich Menschen denn gerne und auch noch freiwillig mit einem derart komplexen Thema wie der Geldanlage beschäftigen? Sie haben eine merkwürdige Vorstellung. Weil unser Rentensystem vor großen demografischen Herausforderungen steht zum Beispiel. Und weil die Deutschen einen Gutteil ihres Ersparten, 1100 Mrd. Euro, so angelegt haben, dass sie dafür praktisch keine Zinsen bekommen. Und das bei zwei Prozent Inflation! Entschuldigung, aber mit solchen Belehrungen geht es doch schon los. In unseren Studien sehen wir immer wieder, dass es demotivierend ist, ein Problem eingeredet zu bekommen, wo die Menschen selbst gar keines sehen. […]« Es ist immer unterhaltsam, wenn sich Interviewer und Interviewter eigentlich so gar nicht grün sind. // »Warum Deutsche ungern ans Geldanlegen denken«

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