»Wenn an die Stelle von Argumenten Gefühle treten, ist an Diskutieren nicht zu denken«

Svenja Flaßpöhler, Claus Kleber und Albert Watson


»[…] Warum schaffen wir es nicht mehr, Thesen in den Raum zu stellen und dann von allen Seiten zu betrachten? Und noch ein Satz zur Standpunkttheorie: Es ist ja gerade notwendig, dass am Diskurs auch Menschen teilnehmen, die nicht unmittelbar betroffen sind. Sie haben nämlich den Vorteil, sich aus der eigenen Betroffenheit nicht herauslösen zu müssen und vielleicht Aspekte zu sehen, die Betroffene nicht sehen. Deshalb würde ich sagen: Die Betroffenenperspektive kann extrem bereichernd sein für einen Diskurs. Aber sie kann auch in krudesten Narzissmus münden, weil man alles auf sich bezieht.

Das ist das intellektuelle Äquivalent zum Selfie.
Ja, wobei man da immerhin noch eine Armlänge Abstand halten muss zu sich selbst.

[…]

[…] Apropos Schiss: Es ist absehbar, welche Reaktionen unser Heft und dieses Gespräch bekommen wird.
Ich werde oft gefragt: Haben Sie gar keine Angst vor einem Shitstorm? Scheiß auf den Shitstorm. Wenn jetzt schon Journalisten-Kollegen damit anfangen zu sagen, hmmm, wenn ich das jetzt so schreibe, wird die taz-Leserin das nicht liken, dann wird es wirklich gefährlich. Letzten Endes braucht man Arsch in der Hose.

Für uns hört sich das etwas machomäßig an.
Aber darauf läuft es hinaus. Ernsthaft: Ich finde, dass man differenziert über Dinge reden können muss. Wenn zum Beispiel gefragt wird: ›Ist es für die Kinder egal, ob sie von homosexuellen Eltern großgezogen werden oder von heterosexuellen Eltern?‹, sind sich alle total einig: Das ist völlig egal. Um es ganz klar zu sagen: Ich finde die Homoehe super, ich bin sehr dafür, dass Homopaare Kinder adoptieren können. Aber eine aufgeklärte Gesellschaft muss in der Lage sein, zu differenzieren. Es macht einen Unterschied, ob ein Kind zwei Väter, zwei Mütter oder einen Vater und eine Mutter hat. Ich rede jetzt nicht davon, dass etwas besser oder schlechter ist, aber es ist ein Unterschied. Warum kann man das nicht sagen? Warum kann man das nicht analysieren? Es gibt eine Angst davor, als reaktionär dazustehen, wenn man in die Differenzierung geht. Das führt zu der krassen Stupidität heutiger Diskurse, in denen ich dann plötzlich eine rechtsreaktionäre Feministin bin. Als Intellektuelle liegt meine zentrale Kompetenz darin, zu differenzieren. Das ist mein Job.

Der Begriff ›rechtsreaktionär‹ scheint Sie schon zu wurmen?
Natürlich wurmt mich das, natürlich sehe ich mich nicht so. Aber es ist symptomatisch für unsere Zeit. Die Unfähigkeit zur Ambivalenz und die Unfähigkeit zu differenzieren hängen ganz eng zusammen.«*


1.*
Svenja Flaßpöhler ist Philosophin und Feministin. Im Gespräch erklärt sie bildhaft, wie verbohrte Ignoranz sich immer nur im Kreis drehen kann – egal von welcher Seite sie kommt. // Hören Sie auf, Sie beleidigen uns!

2. »… mich stört auch auf der anderen Seite die Weinerlichkeit der Debatte, besonders bei denen, die selbst heftig austeilen. Und: Man darf nicht behaupten, dass die Meinungsfreiheit eingeschränkt sei, nur weil man keinen Widerspruch erträgt. Was meinen Sie mit ‹Weinerlichkeit‹? Ich glaube, dass wir uns nicht auf Debatten oder Sanktionen für Formulierungen stürzen sollten, wenn wir nicht bereit sind, das eigentliche Problem zu bekämpfen. Wir streiten, ob man Studierende sagt oder noch besser Studentinnen und Studenten, anstatt zum Beispiel tatsächlich etwas gegen die Benachteiligung vor allem von weiblichen Studierenden im Universitätsalltag zu tun. […]« Claus Kleber hat zur Angst um die Meinungsfreiheit ein klares Motto – und auch ein Beispiel: die türkischen Journalistenkollegen zum Beispiel. // »Meinungsfreiheit muss man benutzen«

3. »Für mich ist das surreal, seltsam – und ein Phänomen, das Andy Warhol vorhersah. Ich kann eines meiner – wie ich finde – guten Fotos auf Instagram hochladen und bekomme dafür vielleicht 1000 Likes. Poste ich aber einen Schnappschuss einer Ausstellungseröffnung in Moskau, bekomme ich 6000. Stellen Sie sich doch mal vor, van Gogh hätte damals seine berühmten Sonnenblumen auf Instagram veröffentlicht – und 50 Leute schauen sich das Bild dort an. Gleichzeitig kommentieren aber 50.000 Leute, wie irgendein Promi in Paris einen Kaffee trinkt. Instagram hat die Balance zwischen Erfolg, Ruhm und Qualität verschoben. Definitiv. Qualität spielt keine Rolle mehr. Warum sonst bekommt ein Foto von einer Giraffe, die ein Blatt frisst, vier Millionen Likes?« Mode- und Star-Fotograf Albert Watson stellt klar, dass er weder Gigi Hadid beim Kaffeetrinken noch eine Giraffe in der Savanne für hochwertigen fotografischen Content hält – halleluja! // »Als die Fotografie um die Ecke kam, war es um mich geschehen«

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